Es ist schon spannend zu beobachten, wie wir ein und dieselben Dinge ganz unterschiedlich bewerten. Wenn zum Beispiel unsere Hündin einen fahren lässt, dann hört man: „Oh Baila, häsch gfürzelet. Lueg emol , wie sie unschuldig lueget.“ Wenn jedoch ein anderes Familienmitglied dasselbe tut, hört sich das schon ganz anders an: „Wäh, wer het da so grusig gfurzet!“ Objektiv betrachtet können wir festhalten, dass sich jemand seiner quälenden Darmwinde entledigt hat und es stinkt.
Wenn ein Baby schnarcht, dann sind wir entzückt über die Geräuschchen, die es von sich gibt. Wenn sich hingegen der Mann durch seine Träume sägt, könnten wir ihn an die Wand tackern. Vielleicht liegt es daran, dass wir dem unschuldigen Säugling keine böse Absichten unterstellen, während wir beim Gatten felsenfest davon überzeugt sind, dass er uns extra um den wohlverdienten Schlaf bringen will.
Der Slogan „Dünn ist schön“ prägt den Kult des Schlankheitswahns. Auch solche Beurteilungen sind immer subjektiv und verändern sich im Laufe der Zeit. So wären beispielsweise die Models, die heute über den Catwalk stöckeln, bei Ruben so was von durchgefallen.
Manchmal verändert auch ein klitzekleiner Input die Art und Weise, wie du über etwas denkst. Vergangenen Samstag stellte ich das Lied „I love my life“ von Robbie Williams ins Zentrum meiner Buchtaufe. In Refrain schmettert er uns folgende Worte entgegen:
I am powerful, I am beautiful, I am free
I love my life,
I am wonderful, I am magical, I am me,
I love my life.
Als ich das Lied das erste Mal im Radio gehört habe, hat es mich sehr berührt. Obwohl ich ein bekennender Robbie-Fan bin, erkannte ich seine Stimme nicht. Ich war jedoch unheimlich beeindruckt, dass jemand den Mut hatte, so was mit solcher Inbrunst hinauszuposaunen. Ich habe mich dann bei Google schlau gemacht, von wem das Lied ist und war umso erstaunter zu erfahren, auf welchem Hintergrund der Songtext entstanden ist. In einem Interview erzählt der Sänger, dass es sein Wunsch sei, seine Kinder im Glauben und der Überzeugung zu erziehen, dass sie diese Worte eines Tages aus vollster Überzeugung formulieren und leben. Ich war beeindruckt und dachte bei mir:
„Wow, das wünsche ich mir auch für meine Tochter!“
Nach der Lesung kam mein Vater grinsend auf mich zu und meinte:
„Weisst du, was ich das erste Mal dachte, als ich dieses Lied im Radio hörte? Was für ein eingebildeter Pinsel muss das denn sein, der so was singt. Aber wenn man es unter diesem neuen Aspekt ansieht, dann verändert sich alles. Dann ist es auf einmal ganz wunderbar.“
Wir urteilen ständig, meist automatisch, leider meist unreflektiert. Wir stülpen anderen unsere subjektive Bewertungsskala über und tun dem anderen damit häufig unrecht. Wir alle unterliegen diesem Wertevirus. Irgendwann wurden wir damit infiziert. Aber ich glaube, dass er uns in dieser Form nicht wirklich guttut. Vielleicht sollten wir mehr anerkennen, dass jeder auf seinem persönlichen Weg ist. Auf seine Art, in seinem Tempo. Auf unterschiedlichen Ebenen des Bewusstseins.
Der Anspruch, vollkommen wertefrei zu werden, ist hoch gesteckt. Aber vielleicht gelingt es dir, das Werten insofern zurückzunehmen, dass du es auf dich selbst zurückbeziehst. Dass du erkennst, dass es lediglich den Zweck erfüllt, dich selbst neu zu positionieren, dich selbst zu hinterfragen. Erkenne, dass das Werten vielmehr etwas über dich selbst aussagt als über den anderen, dem du das Ganze überstülpst. Nimm dem Beurteilen den ungebremsten Automatismus und schenk ihm mehr Bewusstsein.
Beobachte dich selbst einmal in deinem Alltag. Wann und wo wertest du? Frage dich dann: Um WAS oder WEN geht es hier gerade? Was sagt deine Wertung gerade über dich selbst aus?
Kultiviere deine Wertehaltung. Es macht einen Unterschied, ob du sagst:
„Spinat schmeckt grässlich“ oder „Ich mag keinen Spinat“.
Im ersten Fall proklamierst du eine scheinbar allgemeingültige Tatsache, im zweiten Fall deklarierst du deine persönliche Meinung, lässt jedoch dem anderen die Freiheit, sich selbst seine zu bilden. Klar, das ist ein profanes Beispiel. Da gibt es bestimmt Themen, bei denen es dir nicht ganz so einfach fällt, dein Gegenüber in seiner Andersartigkeit zu akzeptieren. Die grosse Herausforderung im Umgang mit unseren Mitmenschen besteht darin, den anderen hinter der Fassade seines Tuns zu erkennen, sich von der Erwartungshaltung zu lösen, aber das Verbindende hinter dem Trennenden nicht zu vergessen.
2 Kommentare
Danke für den interessanten Gedankenanstoss, sehr passend und gut geschrieben!
Danke dir, für dein Feedback!